Warum sprechen wir eigentlich von der vierten Industriellen Revolution?
Das hat mit dem revolutionären Charakter der Auswirkungen von IoT auf die Industrie zu tun, auch wenn eine solche Titulierung immer etwas problematisch ist. Normalerweise zeigt ja erst der Rückblick, wie revolutionär etwas war. Wir wussten aber damals schon, dass auf der technischen Plattform des Internets neue, meist äußerst erfolgreiche Unternehmen entstehen. Sie alle verließen traditionelle Formen des Geschäfts und haben völlig neue Geschäftsmodelle im Bereich des Handels und der sozialen Medien realisiert. Es gab kein Argument, warum in der anbrechenden Welt des Internets der Dinge nicht eine vergleichbare Entwicklung ablaufen sollte, mit neuen Spielern, deren Erfolg darauf gründet, bisherige Paradigmen ad absurdum zu führen. Außerdem sahen wir die „Wucht“ des Internets: Waren 1995 noch 40 Millionen Menschen vernetzt, waren es 2005 schon 975 Millionen. Wir rechneten für 2015 mit fünf Milliarden vernetzten Menschen, und in dieser dynamischen Entwicklung durch immer leistungsfähigere Rechner und Netze war auch die Vernetzung der Maschinen eine logische Folge. Das ist ein Paradigmenwechsel, der gegenüber den drei industriellen Revolutionen nicht zurücksteht: dem mechanischen Webstuhl ebenso wenig wie dem ersten Fließband oder der ersten programmierbaren Steuerung für automatisierte Produktion. Aber wir sehen heute, dass selbst Bosch als „Forerunner“ noch am Anfang eines Weges steht, der wohl noch 20 bis 30 Jahre lang dauern wird, bis die enormen Potenziale ausgeschöpft sind.
Was war aus Ihrer Sicht das revolutionäre Potential von Industrie 4.0?
Das revolutionäre Potential haben wir bereits am Anfang unserer Arbeit in einer Vision niedergelegt: Mit Industrie 4.0 wird eine neue Stufe der Organisation und Steuerung der gesamten Wertschöpfungskette erreicht, über den gesamten Lebenszyklus von Produkten. Dieser Zyklus orientiert sich an den zunehmend individualisierten Kundenwünschen und erstreckt sich von der Idee, dem Auftrag, über die Entwicklung und Fertigung, die Auslieferung eines Produkts an den Endkunden bis hin zum Recycling, einschließlich der damit verbundenen Dienstleistungen. Basis ist die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit durch Vernetzung an der Wertschöpfung beteiligter Instanzen sowie die Fähigkeit, aus den Daten den zu jedem Zeitpunkt optimalen Wertschöpfungsfluss abzuleiten. Durch die Verbindung von Menschen, Objekten und Systemen entstehen dynamische und selbst organisierende, unternehmensübergreifende Wertschöpfungsnetzwerke, die sich nach unterschiedlichen Kriterien wie beispielsweise Kosten, Verfügbarkeit und Ressourcenverbrauch optimieren lassen. Dezentrale Selbstorganisation ersetzt zentrale Planung, starre Wertschöpfungsketten werden durch Ad-hoc-Organisation von Wertschöpfungsnetzwerken ersetzt.
Welchen Beitrag hat Bosch zur Entwicklung von Industrie 4.0 geleistet?
Wir haben bei Industrie 4.0 ganz von vorn angefangen, es gab keine Blaupause. Bosch war von Beginn an treibende Kraft. Ab 2011 hatten wir zusammen mit dem Präsidenten von Acatech, Prof. Henning Kagermann, den Vorsitz im Arbeitskreis Industrie 4.0, in dem Vertreter der Industrie, der Wissenschaft, von Verbänden und Gewerkschaften an einem Tisch saßen. Ohne Treiber können Sie ein Thema nicht in großem Maßstab voranbringen und in Wirtschaft wie Politik Akzeptanz dafür gewinnen. Daher ist es so wichtig, dass Bosch weiterhin einer der Vorreiter bei Industrie 4.0 ist und dies mit Know-how bei künstlicher Intelligenz verbindet. Was das dem Unternehmen selbst bringt, ist aus meiner Sicht aus Zahlen gut ablesbar. Und wenn man sich die Zahlen der vergangenen Jahre ansieht, zeigen sich die Erfolge. Bosch hat nach zehn Jahren mit seinem Industrie 4.0-Portfolio mehr als vier Milliarden Euro Umsatz erzielt.
Wie geht es weiter für Bosch bei Industrie 4.0?
Ein entscheidender Erfolgsfaktor ist: Bosch ist nicht nur Anbieter, sondern auch Anwender von Industrie 4.0-Lösungen. Diese Doppelrolle des Unternehmens hat einen wichtigen Effekt: Bosch kann neue Industrie 4.0-Anwendungen und Technologien an weltweiten Fertigungsstandorten des eigenen Unternehmens einführen und wichtige Erfahrungen sammeln. Bosch macht es erfolgreich vor, und den Kunden werden so die Vorteile von Industrie 4.0 überzeugend vermittelt. Bosch-Projekte zeigen, dass sich mit vernetzten Lösungen die Produktivität um bis zu 25 Prozent steigern lässt. Und über solche Effekte freue ich mich als langjähriger Gestalter und Begleiter des Themas natürlich besonders. Sie machen deutlich: Die Initiative, die wir vor einem Jahrzehnt begründet haben, lohnt sich – auch heute.
Dr. Siegfried Dais war bis 2012 Mitglied der Geschäftsführung von Bosch, ab 2007 Stellvertretender Vorsitzender der Geschäftsführung. Ab 2007 bis Ende 2017 war er Kommanditist der Robert Bosch Industrietreuhand KG.
Dais übernahm 2012 den Vorsitz des Arbeitskreises Industrie 4.0, um das „deutsche Zukunftsprojekt“ als Bestandteil der „Hightech-Strategie 2020“ der Bundesregierung weiterzuentwickeln.